Lenzburg (1951)

Lenzburg war schon immer an der grossen Heerstrasse gelegen, und seit grauen Tagen ging die Verbindung Bern-Zürich mitten durch die kleine Stadt, die einst wohl auch von einem ganz besondern Reisewagen berührt wurde; er führte das berühmteste Wunderkind des 18. Jahrhunderts und einen der grössten schöpferischen Geister des Abendlandes mit sich: Mozart. Die Strasse ist die gleiche geblieben, nur wird sie heute von Vehikeln durchrast, deren Insassen sich kaum Zeit nehmen, die liebenswürdige Landschaft, die hübschen Gassen, die alten Bauten geruhsam zu schauen, geschweige denn, für einen Tag zu rasten, vielleicht von einem Einheimischen sich Stadt-Geschichte erzählen zu lassen. Dass Lenzburg durch fatale Eisenbahnpolitik an lauter Nebenlinien zu liegen kam, ist zur Genüge ausgesprochen worden; dass sich lebendiges, industrielles Unternehmertum trotzdem schweizerische, ja Weltgeltung verschaffte, ist allen Jahrbüchern und Rechenschaftsberichten zu entnehmen.Dass auch heute etwas vom Charme der Kleinstadt zu verspüren ist, kann nicht bewiesen und statistisch festgehalten werden. Doch jene, die sich vom anmutigen Seetal, von der Kette des Jura oder vom grünen Freiamt her den alten Mauern nähern, dabei dem Erleben einer der starken Akzente baren Landschaft geöffnet sind, die in der weithin sichtbaren Silhouette des Schlosses den Zeugen bedeutungsvoller Vergangenheit sehen, werden wohl verstehen, dass es sich hier, abseits der kulturellen Zentren, gewissermassen “auf dem Lande”, leben lässt.Wenn ihnen gesagt wird, dass schon früher einige erlauchte Dichter den Ort als freundlich empfanden und längere oder kürzere Zeit in ihm verweilten, dann werden sie etwas weniger erstaunt auf ihren Mienen die Frage verbergen, ob denn ein solches Städtchen für den kulturell Interessierten den richtigen Aufenthaltsort bilde. Nicht nur verbrachte nämlich Frank Wedekind hier seine Schul- und Jugendjahre; auch ein Scheffel, Strindberg, Spitteler lebten, in nahem Kontakt mit ihnen befreundeten Einwohnern stehend, auf Tage, Wochen, Monate da, und wenn von den Vertretern der Literatur die Rede ist, muss an Lenzburger Schriftsteller erinnert werden, deren Ruf über lokale Grenzen hinausging: Fanny Oschwald-Ringier und Eugen Ziegler, beide epikuräische Bewohner des alten schönen “Burghalde”-Gutes am Fusse des Schlosses, sannen im Schauspiel oder kulturgeschichtlichen Essay über schweizerische und weltweite Vergangenheit nach, und S. Haemmerli-Marti schrieb in Mundart und Schriftsprache ihre bedeutungsvollen Gedichte. Nicht allein besitzt Lenzburg also eine dichterische Vergangenheit; als Musikstadt war es vor allem bekannt, und nicht nur kamen und gingen Dirigenten, die stets einen Hauch des bewegten Auslandes brachten, sondern eine kleine Schar berühmter Sängerinnen flog von Lenzburg in die grosse Welt: Fanny Hünerwadel (die mit Wagner befreundet war, der seinerseits Mozarts Strasse des öftern kreuzte, wenn er, von Wildegg kommend, nach dem Brestenberg fuhr), Anna Walter-Strauss, Erika Wedekind, Clara Wirz-Wyss.Waren in früheren Zeiten Lenzburgs Einwohner in ihren geistigen Bedürfnissen weitgehend auf ihren eigenen Raum angewiesen, so wurde ihnen zum mindesten der allgemein schweizerische durch die entwickelten Verkehrsmittel erschlossen; doch mit der Technik und ihren oft zweifelhaften Segnungen hielten Geist und Kultur nicht Schritt. Im Gegenteil: je leichter es wurde, aus den engen Mauern auszuscheifen, desto geringer der Wunsch, die eigenen Möglichkeiten schöpferisch auszuwerten. Dabei waren sie zweifellos vorhanden. Während einer Periode materiellen Fortschritts und technischen Uebereifers hatten sie wohl zu ruhen, bis zu dem Augenblick, da man sich darauf besann, dass eine Stadt wie Lenzburg sich mit gewissem Stolz der Vergangenheit erinnern durfte, dass seine schlummernden Kräfte nur geweckt zu werden brauchten und dass sich auf seinem verhältnismässig kleinen Raum kulturelles Leben ebenso entfalten konnte wie in grösseren Städten, ja, dass ihm vielleicht ein besonderes Gesicht zu tragen bestimmt war.Dass durchaus Eigenes vorhanden war, wurde zuerst wohl sichtbar, als man daranging, Lenzburgs Geschichte zwischen Bronzezeit und 19. Jahrhundert durch Zeugnisse aus Kunst und Handwerk darzustellen, was durch die Gründung eines Heimatmuseums in altem Riegelbau auf reizvolle Art geschah. Nicht allein sollte durch alte Ansichten, durch Porträts, durch vielerlei Dokumente, durch Gegenstände des täglichen Gebrauchs Vergangenes schaubar gemacht werden; Erinnerungen an kulturelles Geschehen sollten auch schriftlich festgehalten werden, und so finden sich in den “Lenzburger Neujahrsblättern”, die seit 1930 erscheinen, vielseitige, teils wissenschaftlich getreue, teils belletristisch gefärbte Dokumentationen zu Lenzburgs Historie (denen sich auch durchaus heutige Beiträge zugesellen).Ein Gefühl der Verantwortung gegenüber lokaler Vergangenheit bekundete sich auch bei der Renovation des Rathauses, jenes repräsentativen Baues, der seine äussere Gestalt Ende des 17. Jahrhunderts erhalten hatte, im Innern aber mehrfach Veränderungen durchmachte, deren letzte nur allzu deutlich von der nüchternen Kälte des ausgehenden 19. Jahrhunderts sprach. Im Einvernehmen zwischen Architekt, Handwerker und Kunsthandwerker, die mit dem Wissen um den Wert guten Materials den Sinn für die schöne Form verbanden, wurde der Umbau durchgeführt, und nicht allein wurde einem Plastiker (der sich seither in Lenzburg niedergelassen hat) die künstlerische Ausschmückung in Form holzgeschnitzter Balkenträger und Reliefs, einem Maler die durch die aargauischen Städte zur Einweihung geschenkten Glasbilder übertragen; auch sonst nahmen Sitzungszimmer, Empfangs- und Arbeitsräume nun Werke der bildenden Kunst auf.Diese Bestrebungen in der Richtung kultureller und künstlerischer Belebung sammelten sich in der Gründung einer Kommission von Ortsbürgern, die, jährlich über einen gewissen finanziellen Beitrag seitens der Ortsbürgergemeinde verfügend, ihre vielfältigen Ziele umschrieb und sich seit einigen Jahren jenen Aufgaben widmet, die sich auf dem Gebiete der Förderung geistigen und künstlerischen Lebens in einem städtischen Wesen wie Lenzburg stellen. Ausgehend von einem Wieder-Wachwerden der Freude an lokaler Tradition, einem Innewerden der Bedeutung alter Bräuche, begann man tätig einzugreifen, wo sie missverstanden zu werden oder zu verwässern drohten; das Lenzburger Jugendfest, wohl eines der eindrücklichsten im Kranz jener mittelländisch kleinstädtischen Kinderfeste, sollte in all den formvoll-schönen Zügen gewahrt bleiben, in der fast rituell unveränderlichen Bekleidung der Mädchen und Buben, in der Ausschmückung von Kirche und Rathaus, Strassen und Gassen, in der Bekränzung der alten Brunnen, und, gemäss ehemaliger Sitte, wurde der morgendliche Empfang von Behörden und Lehrerschaft auf dem Rathause wieder aufgenommen. Das herbstliche, aus heidnischer Zeit stammende Klausklöpfen in der Umgebung der Stadt, gipfelnd in einem Wettbewerb auf der Schützenmatte, wobei sich junge und alte Klöpfer in der Kunst üben, mit der oft meterlangen Geissel nicht nur laut, sondern stilgerecht zu knallen; damit verbunden eine Konkurrenz für geschnitzte Räbenlichter mit abendlichem Zug in die alten Mauern; das Erscheinen eines Stadtklauses, der, von Knecht Ruprecht und Esel begleitet, von Haus zu Haus zieht und Gaben austeilt: das sind einige dieser Lenzburger Bräuche.Das Bild der Altstadt und einzelne architektonisch bemerkenswerte Bauten zu wahren: damit stellt sich der Ortsbürgerkommission eine weitere Aufgabe. Des öftern ist sie bei Umbauten zur Konsultation herangezogen worden; sie liess auch, auf eigene Kosten, ihr sinnvoller scheinende Gegenvorschläge ausarbeiten. Zur Erhaltung alter Brunnen wurden Anregungen gemacht. Auf ihre Veranlassung auch wurde in Erinnerung an Frank Wedekinds Lenzburger Jugendjahre an dem Hause, das später seine Mutter bewohnte und wo er oft weilte und arbeitete, eine Gedenktafel angebracht, ausserdem wurden Manuskripte von Werken, die mit Lenzburg in unmittelbarer Beziehung stehen, erworben.Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf das wiedererwachte bauliche Interesse und das Gefühl der Verpflichtung gegenüber bedeutsamen Zeugen alter Baukultur ist der Kauf des “Burghalde”-Gutes durch die Stadt zu erwähnen, eine überaus glückliche Lösung, die die zwei miteinander verbundenen Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert verschiedenen Zwecken dienstbar zu machen erlaubt. In den Sälen des ersten Geschosses mit ihrer gepflegten, künstlerisch ungewöhnlichen Innenausstattung wurden schon mehrmals literarische und musikalische Anlässe, vor allem Ausstellungen, abgehalten, bei denen die Besonderheit von Lage und Bau den Besuchern von nah und fern deutlich wurde.Lenzburgs literarische und musikalische Tradition war wohl in dem Sinne nicht abgebrochen, als Vorträge und Konzerte immer durchgeführt wurden. Dass das Interesse für die bildende Kunst indessen angeregt zu werden verdiente: darauf besann man sich erst in jüngster Vergangenheit. Mit dem Jahresessen der städtischen Bibliothekgesellschaft, das mit Martini zusammenfällt, begann man eine Ehrung von Malern und Plastikern zu verbinden, die in Lenzburg leben und wirken oder zur Stadt nahe Beziehungen haben. So wird denn alljährlich der offiziell zu Ehrende aufgefordert, eine Anzahl seiner Werke während des Martini-Mahles auszustellen, bei welchem Anlass jenes Bild oder jene Plastik, die bei geheimer Abstimmung die meisten Stimmen vereinigt, durch die Stadt erworben wird. Damit ist eine vielgestaltige Sammlung geäufnet.Ist es hier eine verhältnismässig kleine Gruppe von Freunden der Literatur und schönen Künste, die mit Proben gegenwärtigen Schaffens in Berührung kommen, so sollte auf breiterer Grundlage auch der Sinn für das künstlerische Geschehen, zum mindesten der Schweiz, gefördert werden. Ein Versuch wurde dadurch gewagt, als seitens der Stadt an einen anerkannten Meister gegenwärtiger Schweizermalerei die Einladung erging, zwei Wochen Gast Lenzburgs zu sein, sich in naher oder weiterer Umgebung umzusehen, mit den Einwohnern ein abendliches Gespräch zu führen, dies und jenes festzuhalten, was malerisch darstellenswert erschien. Ernst Morgenthaler war der erste, der überrascht durch solch unbekannten Brauch und in einiger Spannung um die Zeit des Jugendfestes im Juli nach Lenzburg kam und während seines Aufenthaltes eine Folge von grössern und kleinern Bildern und Bildskizzen schuf, die landschaftlich Charakteristisches wie figürlich Kennzeichnendes in Szenen vom Jugendfest gestalteten. Hatte die Ortsbürgerkommission ihre Ausstellungstätigkeit schon im Jahre 1945 mit einem Ueberblick über das Schaffen des Lenzburger Plastikers Arnold Hünerwadel begonnen, so setzte sie sie nun mit der Schau der Bilder von Ernst Morgenthaler fort, wobei sich die hohen grossen Räume eines damals leerstehenden Privathauses aus der Zeit des Klassizismus als sehr geeignet erwiesen. “Lenzburg, gesehen durch Morgenthaler”: diese Ausstellung wurde nicht allein als künstlerische Kundgebung aufgenommen, sondern zeitigte auch sonst erfreuliche Früchte, indem zahlreiche Werke in Lenzburger Privatbesitz übergingen.Im folgenden Jahre wurde der Genfer Eugène Martin eingeladen, mit dem in nahe Beziehung zu treten für die Lenzburger ebenso wertvoll war. Indessen musste man sich zeitig erheben, wollte man den Maler an der Arbeit sehen, und es waren wohl nur die Allerfrühesten, die ihn zwischen fünf und sieben Uhr in den morgengrauen Gassen, an der baumbestandenen Bahnhofstrasse, an den Ufern des Aabaches oder vor der weissen Fassade der Mittleren Mühle an der Staffelei erblickten. Im Jahre 1948 wurden drei Maler aufgefordert, landschaftliche Vorwürfe aus Lenzburg und seiner Gegend abwechslungshalber nicht im Bilde, sondern in Aquarell oder Zeichnung, vor allem im graphischen Blatt festzuhalten. Victor Surbek, der Berner, Roland Guignard, der Aarauer, Wilhelm Dietschi, der Lenzburger, waren die Geladenen, die auf diese Weise eine kleine Folge von Lenzburger Lithographien schufen, die, jede durchaus persönlich in Auffassung und Technik, irgendein kennzeichnendes Thema übertrugen. Im folgenden Jahre erschien, ebenfalls zur Zeit des Jugendfestes, die Baslerin Marguerite Ammann; sie malte mehrere Jugendfest-Szenen, dann, ihrer besondern Begabung gemäss, eine Reihe Bilder mit alten Häusern und Gärten, auch Landschaften an den verträumten Ufern des nahen Hallwylersees. Wie schon nach Morgenthalers Aufenthalt, wurden die Bilder dieser Lenburger Maler-Gäste jeweils in einer Ausstellung vorgeführt.Die Reihe der Einladungen wurde 1950 unterbrochen, als sich Gelegenheit bot, im Zusammenhang mit dem Erscheinen eines wissenschaftlichen Werkes von Siegfried Ducret über die Lenzburger Fayencen des 18. Jahrhunderts, die wichtigsten Stücke aus der Schweiz zusammenzurufen zu einer Schau, die, in den Räumen der “Burghalde” veranstaltet, die blumengeschmückten bunten Platten, Teller, Schalen, Ofenkacheln zu köstlicher Wirkung kommen liess. Und ein zweites Mal bewiesen diese Säle und Zimmer ihre vortreffliche Eignung für Ausstellungen, als sie Meisterwerke der Aargauischen Kunstsammlung am Beginn einer Wanderausstellung durch den Kanton aufnahmen: Bilder von Böcklin, Koller, Frölicher, Stäbli, von Caspar Wolf, Agasse, J.A. Koch waren zu sehen, ausserdem Handschriften und wertvolle Drucke aus dem Besitz der Kantonsbibliothek.Neuerdings hat sich die Ortsbürgerkommission auch auf das Gebiet der literarischen Produktion begeben, indem zweimal auf Jahresende ein “Lenzburger Druck” veröffentlicht wurde, der nicht durch das Gewicht seines Gehalts, sondern durch die reizvolle Ungewöhnlichkeit seiner Aufmachung, gewissermassen durch ein unalltägliches bibliophiles Gewand, durch sorgfältigen Satz und Druck, durch ansprechende Illustration wirken sollte. Beide Male wurden durch Lenzburger oder mit Lenzburg verbundene Autoren persönliche Reminiszenzen niedergeschrieben oder Erinnerungen an Gestalten, deren Bild im Wirbel heutiger Zeit zu verblassen drohte. (Jan. 51)  Abschrift eines Typoskripts mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen. Original im Konvolut: Jean-Jacques Delachenal. Unveröffentlichtes & Einfälle