Die Gärten von Combray

Ich sah sie vor einem Jahr, verbrachte einen Tag in jenem Illiers, das inzwischen auf Combray umgetauft worden ist, auch wenn sich die Einwohner anfänglich dagegen sträubten. Die herannahende Jahrhundertfeier und die zu erwartenden Ströme von Proust-Pilgern hatten sie wohl zur Einwilligung bestimmt. Vielleicht hatten auch die beiden Hersteller von Madeleines ein Wort mitgesprochen, die sich einen schwungvollen Handel während der Jubiläen ausmalten? Möglich, dass Zehner- und Zwanzigerpackungen mit dem Gebäck und dem Porträt des Dichters feilgeboten werden wie in Salzburg die Mozartkugeln. Wobei die Madeleine in Prousts Werk immerhin eine wichtige Rolle spielt. Welche der beiden Konditoreien es war, die die von Proust und den Amiot-Verwandten verzehrten Törtchen buk, scheint nicht mehr feststellbar.Hätte wohl die etwas verhutzelte, sehr provinzliche und eigentlich eher bäuerisch wirkende letzte Überlebende aus der Familie Amiot Auskunft geben können, die man im Augenblick, da ich das Anwesen der Tante Léonie betrat, auf eine Bank gesetzt hatte und für ein Interview herrichtete, das ihr von seiten einiger junger Filmleute blühte? Ein paar Damen und Herren, hochmodisch gekleidet, die Zigarette im Mundwinkel und ganz und gar nicht der «verlorenen Zeit» zugehörig, setzten der hilflosen Alten auf der Gartenbank zu und funktionierten smart und könnerisch mit Mikrophon, Photoapparat und Kabelschlangen. Zum Glück verliessen sie den verwilderten Garten bald; sie passten ohnehin nicht dorthin. Stille und Versunkenheit sind nicht nur das Wahrzeichen des Gartens hinter dem Haus der Tante Léonie, sondern auch des über dem Loir gelegenen Pré Catelan, wie des ganzen Ortes, der einmal als Dorf, einmal als Stadt bezeichnet wird. Ich sah am selben Tag noch einen dritten Garten, der, völlig unverändert geblieben wie zu Zeiten, da sein Besitzer darin lebte und japanische Ziersträucher hegte: den Garten beim Haus von Ravel in Montfort l’Amaury, das von Céleste Albaret betreut wird. Sie war es, die Proust in den letzten Jahren, Tagen und Stunden hilfreich zur Seite stand. Vermutlich wäre sie weitaus befugter gewesen, Authentisches über Proust auszusagen. Seit ungezählten Jahren habe ich immer wieder in den Bänden der Recherche du temps perdu gelesen, und seit der Lektüre des ersten Teils, Du côté de chez Swann, hat mich der Ort Combray intrigiert, in dessen Lage sich der Dichter, sicher absichtlich, nicht festlegt, und der, dem Text nach, in der Normandie sein könnte; doch dann wird wieder von Verneuil gesprochen, das man bei klarem Wetter vom Kirchturm sehen kann. Dass Combray in Wirklichkeit Illiers ist, ein Marktflecken, 25 Kilometer westlich von Chartres, erfuhr ich, wie auch, dass das Haus, in dem Proust mit seinen Eltern alljährlich die Osterferien verbrachte, erhalten sei. Nun endlich gelang mir der Eintritt in jenes Paradies einer Kindheit, die halb glücklich, halb traurig war und früh von Ångsten und Komplexen, auch einer Krankheit beschattet, die den Dichter bis zum Tod nie mehr freiliess. Im Grund wäre die Fahrt von Chartres mit der Eisenbahn zurückzulegen gewesen wie zur Zeit von Prousts Osterferien, da der Vater, des aus der Ebene auftauchenden Kirchturms von Saint-Hilaire ansichtig, die Reisenden auf die baldige Ankunft aufmerksam machte. Der Kirche einen Besuch abzustatten verstand sich von selbst. Proust, in seiner grossen Kunst, Einzelheiten aus verschiedenen Gebieten zusammenzutragen und sie, wie bei der Beschreibung des Innern von Saint-Hilaire, der bedeutenden Glasmalereien, des Altars mit den Weissdornzweigen, zur neuen Einheit zu fügen, hatte die Seitenkapelle jedenfalls erlebt; sie war den adligen Bewohnern eines benachbarten Schlosses vorbehalten, und hier sah er zum ersten Male die Duchesse de Guermantes. Ihr Åusseres entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen. Saint-Hilaire von Combray: die Kirche ist Mittelpunkt nicht nur des Ortes, sondern allen Geschehens. Der Schlag der Uhr teilt alle Viertelstunden die Zeit, schwingt hinüber in den Pré Catelan jenseits der Vivonne, wo der Knabe lange Nachmittage verträumte oder lesend am Weiher sass. Der Viertelstundenschlag teilt auch die Zeit für Tante Léonie, die sich ganz der Kunst der völligen Tatenlosigkeit hingibt und sich allein noch durch die so rasch wiederkehrenden Samstage und ihre um eine Stunde vorverschobene Mittagsmahlzeit wie durch die Besuche des Pfarrers und der hinkenden und halbtauben Eulalie im Dahintreiben aufgehalten fühlt. O grosses Glück der völligen Tatenlosigkeit: Du, grosses Vorbild, Tante Léonie, hast sie durch Jahre hin geübt, hast Monologe vor dir selbst gehalten, mit halber Stimme nur, aus Angst, mit voller etwas im Organismus zu zerbrechen, hast jeden Rat für eine vernünftigere Lebensweise in den Wind geschlagen, hast zuletzt weder Combray noch dein Haus, noch dein Bett verlassen und das geradezu frivole Ansinnen des Pfarrers, sich bei allfälliger Besteigung des Turmes warm anzuziehen, mit Empörung beschwiegen und nur die Einfühlung der törichten Eulalie ertragen, die das tägliche Geschehen im Ort bis ins kleinste rapportierte. Immerhin: auch die Besuche von Pfarrer und Eulalie ermüdeten dich, und erschöpft sankst du in die Kissen. Was dich nicht abhielt, vehement daraus aufzufahren und energisch viermal die Glocke zu ziehen: Zeichen, dass Françoise sich sofort an dein Bett zu begeben habe. Da ist er ja, der Glockenzug; vom Bett aus erreichbar, das ans Fenster geschoben ist. Und da ist die einem Hausaltar gleichende Kommode aus Zitronenholz mit Messbuch, Marienstatuette und der Flasche Vichywasser, das oft deine ideale und einzige Nahrung war, dich bei Gewitter dennoch belasten konnte, so dass du ihm die verdauungserleichternden Pepsintropfen nachsenden musstest. Und der Gedanke, ob sie es noch erreichen würden, nahm dein ganzes Denken in Anspruch. Und da ist die zierliche Tasse für den Tee, und eine Lindenblüte auf einem Tellerchen symbolisiert die Zutat für die ungezählten beruhigenden Tisanen, so, wie die danebenliegende Madeleine eines der zahlreichen unschuldigen Törtchen symbolisiert, die du zu dir nahmst. Aber nur ein einziges war es, das der Erzähler des langen, des ungeheuren Lebensromans zu sich nahm: der Duft des in Lindenblütentee aufgeweichten Gebäcks löste in ihm die ganze Flut des Erinnerns aus, jenes unbewussten Erinnerns, Schlüssel zum gesamten Werk, das Proust in so mühsamen Anläufen, begonnenen und wieder verworfenen Vor-Romanen, in plötzlicher Erhellung begann und bis zu seinem Tod fortführte und vollendete. Alles wird ihm zum Symbol, zum verdichteten Sinnbild nicht nur einer Epoche, sondern des menschlichen Geschehens schlechthin. Unendlich reizvoll ist es denn für mich und sicher ungezählte andere, die greifbaren Ausgangspunkte zu all dem dichterisch Ausgesprochenen zu schauen, die Zimmer der kunstvoll vegetierenden Tante Léonie, halb eingebildet, halb wirklich krank, mit seiner Blumentapete, seinen verblichenen Dingen aus der Romantik, seinem Fenster auf die graue Strasse. Und nicht weniger reizvoll ist es, das Schlafzimmer des Knaben Proust zu sehen, das Zimmer seiner frühen Ångste, die durch das Spiel der laterna magica zerstreut werden sollten. Mit lauter Stimme pflegte die Grossmutter den Text der Geschichte von Genoveva von Brabant vorzulesen und von Golo, der, aus dem dreieckigen Wald reitend, Böses im Sinn hatte. Zitternd und schwankend warf sich das farbige Bild an die Wand, verlor sich sogar in den Falten des Vorhangs. Sie steht da, die kindliche Zauberlaterne, und auf dem Nachttisch neben dem Bett im Alkoven liegt die Erzählung François le Champi, aus der die Mutter vorlas. Unendlich rührend all die hier vorhandenen kleinen Dinge, die im ersten Teil des Romans dichterisch wachgerufen sind. Klein und zierlich alles in dem ländlichen Haus, in dessen Erdgeschoss sich ausser dem kleinen Salon mit den Erinnerungsstücken aus Nordafrika das dunkle Esszimmer findet mit dem runden Tisch, den vier Sesseln und den an die Wand gerückten Stühlen, dem Empirespiegel und der Hängelampe: sie wusste nichts vom bösen Golo, kannte dafür besser die Eltern und das Boeuf à la Casserole, so lautet die Textstelle im Roman. Und im Erdgeschoss, in einem kleinen Anbau, von dem eine Tür mit blauen und gelben Gläsern in den Garten führt, ist auch die Küche gelegen. Ein Herd, die Bratröhre, der Tisch, die Anrichte, ein Stuhl, die violettblauen Kacheln, die kupfernen Pfannen, die längliche Keramikschüssel für die Wildpastete, der Porzellanaufsatz mit den weiss-goldenen Crèmetassen: alles ruft das Dasein und Wirken von Françoise wach, die hier waltete und die köstlichsten Dinge kochte und briet und gleichzeitig so hart sein konnte, sei es gegenüber einem Hähnchen, das sich seines Lebens wehrte («Sale bête!» rief sie ihm zweimal nach, als es schon tot war), wie gegenüber dem armen Küchenmädchen, das schwanger war und von Swann als die «Caritas von Giotto» bezeichnet wurde. Die Güte der Speisen und die Unverträglichkeit gegenüber Mensch und Tier versinnbildlichten für den Knaben schon die Widersprüchlichkeiten in unserem Dasein. Wie war es überhaupt möglich, dass zwei Figuren sich gleichzeitig in dieser kleinen Küche aufhielten? Der nun herrlich zugewachsene Garten hinter dem Haus der Tante Léonie mit dem wilden Rosenstrauch, der weissen zierlichen Plastik, dem Sitzplatz in schattiger Tiefe, wo abends Eltern, Grosseltern und weitere Verwandte mit Swann zusammensassen, hat sich im Roman in ein parkähnliches Gebiet verwandelt, durch dessen Alleen die Grossmutter im Sturmschritt hin- und hereilen konnte, ihre Stirn dem Regen und den Kräften der Natur darbietend, in einer allen andern unverständlichen Vorliebe für die Launen des Wetters. Die ganze Gartensphäre scheint immer noch unverändert, hält mich gefangen durch ihre stimmungshafte Verträumtheit, ihre Abgeschiedenheit, ihre Zeitenferne. Nur von weitem teilt auch hier der Viertelstundenschlag vom Turm von Saint-Hilaire die Zeit wie während all der Jahre, da Proust mit den Eltern in der noch kühlen Osterwoche und während der Sommerszeit hier lebte. Einen Blick auf die Weissdornhecke muss ich noch tun, die man vom obern Parkausgang erreicht. Welche Rolle spielt der blühende Weissdorn in Prousts Werk! Hinter der Hecke dehnen sich die Åcker und Felder in unermessliche Weite. Es ist die Richtung nach Tansonville, wohin die Familienspaziergänge führten. Erfolgten sie in der Gegenrichtung, dann gelangte man nach Guermantes. Beide Spaziergänge in ihrer unveränderlichen Wiederkehr hatten als ständigen Begleiter den Lauf der Vivonne. Sie ist ein kaum merklich fliessender kleiner Fluss, umstanden von Pappelreihen. Vom Pré Catelan, Swanns Park, leitet neben den alten hohen Pappeln ein schmaler Pfad zu einem Steg, der zur Stadt zurückführt. Er ist so schmal, dass ich für einen heimkehrenden Bauern mit seinem Velo ein ernstliches Hindernis bilde: ich habe nämlich meinen Malstuhl hier aufgeschlagen und will die Vivonne malen, den grauen stillen Fluss, die Pappelreihe, den grauverhängten, doch lichten Himmel der Beauce. Erstdruck in Die Weltwoche, 9. Juli 1971