Hannibals später Sport

Hätte sich einer die Mühe genommen, durch das Schlüsselloch zu gucken (was man damals in den Kreisen gehobener Stände, in denen diese Geschichte spielt, allerdings nicht tun durfte), dann hätte er einen Berg erblickt, auf dem ein rundes Glas in sanftem Rhythmus auf- und niederging. Das Glas war ein Monocle an breitem schwarzem Band, und der Berg ein Leibgewölbe, dessen Besitzer seine Exzellenz der Kommerzienrat Hannibal von Plückwesen war. Als Erfinder eines geruchlosen Bodenbelages, auf den er beizeiten ein Patent genommen und dessen Verwertung im hygienischen vergangenen Jahrhundert ihm einigen Reichtum eingebracht hatte, konnte er seine späten Jahre der Würde so recht geniessen, besonders dann, wenn seine Gattin abwesend war. Zwar hing über einem Garderobehalter aus Hirschhorn und Birkenholz in Kreuzstich gestickt der holde Spruch "Jung gefreit hat noch niemanden gereut" (wobei die Endsilbe -en am Worte "niemand" mit Blaustift von der besseren Ehehälfte hinzugefügt war, denn sie hielt auf tadellose Grammatik); doch die Zeit der Minne war verrauscht, und Thelimistokla, wie sich Frau von Plückwesen nannte, setzte ihm je öfter je lieber mit ihrem Hexentum zu.

Sie war keine bildliche, sondern eine wörtliche Hexe, und als der junge Hannibal sie in einem erstklassigen Heiratsvermittlungsbureau am Jungfernstieg (wir sind in Hamburg) kennen lernte, verstand sie es auf geradezu unnachahmliche Art, die Zeichen ihrer Herkunft und ihren Besen zu verbergen. Jetzt, bös und alt geworden, verkehrte sie wohl noch immer in den Kreisen der höheren Kaufmannschaft, doch tat sie sich zu Hause um so weniger Zwang an, und kaum ein Tag verging, ohne dass sie mir nicht dir nichts ihrem Gatten zurief: Ante portas!, und dann wusste er, dass er das Feld zu räumen hatte.

Heute war sie beizeiten nach Tisch zu einer Partie Whist bei einer ihrer vornehmen, strengdenkenden Freundinnen aufgebrochen. Den Besen, versteht sich, unter der grauwollenen dezenten Taille versteckt, hatte sie mitgenommen, gewissermassen zum Zeichen huldvoller Geneigtheit gegenüber seiner Exzellenz, die heute brav kuschte. Sonst liess sie, ging sie aus, jenen Besen irgendwo sichtbar und als Merxmarx ihrer Hexenkraft stehen, so wie man einem eigensinnigen Hund, dessen Absichten nicht ganz klar sind, die Peitsche vor die Nase legt.

Hannibal ergab sich fürs erste einem gemächlichen Schläfchen, und ein zartes Lächeln spielte um seinen Mund, das man allerdings nicht wahrnehmen konnte, denn es war von einem weissen Schnauzrechen verdeckt. Wir werden ja sehen, was mir dieser freie Nachmittag bringt, dachte er beseligt im Entschlummern, indes zu seinen Füssen der geruchlose Fussbodenbelag, wenn auch völlig unwohnlich und kahl, so doch hygienisch blank schimmerte.

Wir kehren nach einem Stündchen zurück und finden ihn glücklich erwacht, erst ein wenig irr und verängstigt um sich blickend, dann sich fassend und in der Verlegenheit die Schnurrbartspitzen zwirbelnd. Sein Auge fiel von ungefähr auf Thelimistoklas Nähtischchen, in dem, wie er richtig ahnte, allerlei geheimnisvolle Dinge verborgen liegen mussten. Wie, sie sollte vergessen haben, die Schiebladen abzusperren? Unglaublich, aber wahr, der Schlüssel steckte, und so erhob sich der Kommerzienrat einigermassen beschwingt und schloss kurzerhand das erste Fach auf. Da lagen verschiedene Schächtelchen, alle säuberlich beschriftet, und Hannibal ergriff in einer lausbübischen Anwandlung ein himmelblaues Etui, auf dem in verschnörkelten Lettern stand "Für Liebeswerben". Was mochte da drinnen sein?

Das Monocle ward ins Auge geklemmt, und die zittrige, doch hastige Hand entnahm dem Behältnis eine Anzahl unförmige kleine Dinger, die in Reih und Glied auf dem Tisch ausgebreitet wurden. Das war ja wohl zum Aufblasen? Richtig: ein winziges Mundstück war allüberall angefügt, und so begann Hannibal mit rotem Kopf zu blasen. Wie niedlich! Die Dingerchen nahmen rundliche Formen an, und zuletzt waren es entzückende Amoretten, die in die Luft entschwebten. Das war kaum zu glauben! Eine ganze Amorettenschar bevölkerte schliesslich den Salon, und nicht nur flogen sie als leblose Spieldinger herum, sondern sie konnten auch sprechen, singen und tanzen, und einige verwegene setzten sich der Exzellenz auf Kopf, Schultern und Bauch, was ihr gar wohl gefiel. Dabei wogen sie leicht wie Luft, und er brauchte nur ein wenig zu pusten, und schon wirbelten sie kichernd durch den Raum.

Wie müsste dieses charmante Spiel seinen alten Freund ergötzen, den wirklich Geheimen Rat Nathanael Bleistift von Bleistiftsau. Er verfügte sich also an den Telephonapparat, kurbelte die Glocke an und rief in geradezu unvorsichtiger Verzücktheit: "Ach, mein lieber Bleistift, so komm doch gleich zu mir herüber, ich bin in Gesellschaft von süssen, rosigen..." Das Wort "Amoretten" konnte er nicht mehr aussprechen, denn eine derselben hatte sich soeben zwischen seinen Schnauz und den silbernen Trichter gesetzt. Hannibal, halb amüsiert, halb erbost, blies sie fort, doch als er weitersprechen wollte, war die Stimme am andern Ende des Drahtes schon fort, und so blieb nichts anderes zu tun, als den Hörer einzuhängenn und das Glockensignal "Fertig" zu geben.

Thelimistokla Welestchen, jetzige Kommerzienrätin von Pflückwesen, die so sehr auf reine grammatikalische Formen hielt, sass indessen am Spieltisch der Freifrau von Trachenkolickg, und Klamotonie Klamatauterich und Uranita Immelfleiss hatten sich ebenfalls zu einem Whistchen eingefunden; letzere trug heute, zum hellen Entzücken der anderen Damen, als Busengarnitur ihrer sonst streng gefalteten und hochgeschlossenen Robe einen Kranz lackierter Erdbeeren. "Ach, liebe Kommerzienrätin, so geben Sie mir doch schnell mal meine Boa", rief Klamotonie unversehens über den Spieltisch, und Thelimistokla willfuhr diesem Wunsche nur zu gern, denn sie konnte auf diese Weise ein paar wichtig Karten ihrer Partnerin zugehen lassen.

Diese vier Damen nämlich, so strikte sie die hanseatischen Schicklichkeitsformen wahrten und so orthodox sie nach aussen wirkten: allesamt waren sie Hexen, und jede hatte ihren Besen mitgebracht, und alle mogelten sie um die Wette. In den süssesten Tönen flöteten sie zu ihrer Tasse Tee und zu den Friandisen, und jede liess irgendeinen Gegenstand des kostbaren silbernen Teezeuges im Ärmel verschwinden. Die Gastgeberin konnte sich ihrerseits beim nächsten Whist reihum schadlos halten und eine Zuckerzange oder ein Sahnetöpfchen wieder heimführen. "Nun muss ich aber nach meinem Hannibal sehen", rief die Kommerzienrätin im Aufbrechen, und ein Faltensystem bildete sich auf ihrer Nasenwurzel, die ohnehin durch einen Kneifer zusammengequetscht war. Sie liess den Besen unter ihrer dezent grauen Robe wieder verschwinden und verliess, nachdem sie jeder ihrer Freundinnen einen spitzen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, die Villa.

"Mir ist, ich höre eine Motordroschke", flüsterte da plötzlich Hannibal und hielt voller Entsetzen in seinem vergnügten Puttenspiel inne; mit dem Geheimen Rat Bleistift von Bleistiftsau hatte er sich ja so amüsiert, und sie taten mit den quietschenden Amoretten sogar das, was die Engländer shooting nannten, ein neuerfundenes Sportspiel. "Ja, es ist eine Motordroschke", bestätigte nun auch Bleistift, der ebenfalls gespannt lauschte und eine Hand ans Ohr hielt. "Das kann nur meine Frau sein", lispelte erbleichend Hannibal.

Zu langen Schreckensmomenten blieb im übrigen gar keine Zeit, denn schon stand die Herrin des Hauses unter der Tür, ahnend, dass in ihrer Abwesenheit Unfug getrieben worden sei. Die blaue Gockelfedern auf ihrem Hute bebten raschelnd wie Bambusblätter im Föhn, der Klemmer auf der fettigen Nase schwankte erregt; sie aber rief, das Spiel überblickend: "Infantil, einfach infantil!", und mit einer zweckbestimmten Gebärde riss sie die Hutnadel aus dem Hut und rannte zielsicheren Schrittes, aber kalten Herzens dem wimmelnden Amorettenhaufen zu Leibe. Einer jeden jagte sie die Nadelspitze in den prallen Bauch, und mit knappem Klatsch zerplatzte eines ums andere der spassigen Geschöpfe. Mit dem Rufe "Papi, Papi" hatten einige bei Herrn von Pflückwesen Schutz gesucht, doch vergeblich, denn er hatte sich, um dem Schauspiel dieses Ehegrichts zu entgehen, in eine Ohnmacht geflüchtt. Wo aber war der Geheime Rat? Kaum Thelimistoklens ansichtig geworden, erkletterte er eine Kommode, und die Panik beförderte auf wahrhaft wunderbare Weise sein klappriges Turnen. Er hielt sogar noch eine Amorette am Bein gepackt, als die Kommerzienrätin seiner ansichtig wurde und das vermeintlich letzte und unwürdige Spielzeug abstach.

Sie hatte sich jedoch verrechnet: Ein neunmalschlauer Putto versteckte sich hinter dem Blumengestell. Die Not macht erfinderisch, nicht wahr?, und so ergriff er kühn die Blumenspritze, gefüllt mit phosphorsaurem Kalidüngerwasser, und richtete einen feinen, aber wohlgezielten Strahl auf die Kommerzienrätin. Hexen können indessen Phosphor nun einmal nicht vertragen, und so geschah es, dass Thelimistokla von Pflückwesen geborene Welestchen vor den geschlossenen Augen ihres Gatten sich still auflöste und einfach zerfloss. Nur ihre Konturen, der Kneifer und die Stoppeln ihres Besens blieben im geruchlosen Boden übrig.

Die sieghafte Amorette aber richtete denselben Strahl auf den lieben Ohnmächtigen, und da er keine Hexe war, tat ihm das Phosphorwasser kein Übles, sondern befreite ihn bloss aus dem Schreckensschlummer. Begreiflich, dass Hannibal, der glücklichen Wendung bewusst, die letzte der Amoretten herzinniglich küsste und umarmte und sogleich um ihre Hand anhielt. Sie gingen noch selben Tags auf das Trauamt und lebten in stiller Harmonie. Hannibal liess die Konturen seiner Verflossenen abhobeln; doch bisweilen, vor allem wenn das Wetter ändern wollte, schillerten die beiden Brillengläser im Fussboden oder erhoben sich die Borsten des Hexenbesens und suchten ihn zum Straucheln zu bringen.