Aus dem Tagebuch

von Annie von Derschau

An meiner Seite geht M. H. «Herzog Max» wie wir ihn nennen. Er spricht ohne besondere Betonung – gleichsam verschleiert, gedämpft. Er erzählt mir das Schönste seines Lebens – von seiner Mutter, von seinem Vater – seinem verstorbenen Bruder, den er über alles geliebt habe. Dieser Bruder ist nach einer Operation gestorben. Er hat vorher zu ihm gesagt «Angst habe ich nicht. Denke daran: Angst habe ich nicht» – [...] «Ich wollte, dass er nur mich lieben solle. Wenn er mit seinen Freunden ging, machte ich ihm bei seiner Rückkehr zu mir eine Scene – Liebst du mich? und war erst ruhig, wenn er mir versicherte, dass er mich am meisten liebe. Er ist gestorben. Meine Eltern und ich sind nacheinander tiefsinnig geworden. Mein Vater wurde verbittert. Meine Mutter ist wie ein Engel seitdem. Sie liebt alle Menschen. Sie strömt nur Liebe aus. Sie versteht mich. Bei ihr bin ich geborgen. Mutterliebe ist das Einzigste; das Schönste.» [31.7.33] Es ist, als ob mir neue Kräfte wachsen mit dieser Aufgabe, die mich so voll in Anspruch nimmt, dass ich vor mir und den neuen Kräften oft erschrecke. Vielleicht spricht ein anderer aus mir, eine Lichtgestalt, die M. beigegeben ist als Hilfe gegen die Dämonen, die ihn von allen Seiten umstellen und Boden zu gewinnen suchen. [September 33] «Vielleicht ist Ihr liebstes Wort», sagte Max Herzog – und wie hat er recht mit dieser Äusserung. – Vielleicht übersieht er mich und mein ganzes Leben besser wie ich, trotz der eigenen Erfahrung, trotz des so weit schon vorgeschrittenen Lebensalters – auf dessen Erwähnung wie immer die Antwort erfolgt: «Man ist zeitlos und wir ganz besonders». Wohl hat er recht wie in so vielem, ich empfinde ihn mir überlegen. Wie soll ich über diese letzte Woche des Zusammenseins schreiben, wie über seine Äusserungen, sein vorsichtig tastendes Wesen, seine Bitten, die nur gedacht und «geblickt», aber nicht ausgesprochen werden, die sich aber auf mich legen wie flehende Hände? – Ich bin so vollkommen zu Ende von dieser Zeit einer merkwürdig starken gegenseitigen Abhängigkeit, die noch so stark nachklingt, dass ich dauernd das «Halloh» und meinen so eigenartig langgezogen ausgesprochenen Namen «Frau von Därrschau» zu hören meine. [...] So notwendig war ich dem Child, dass ich ehrlich gesagt glaube, noch keinem Menschen jemals so notwendig gewesen zu sein – nicht immer wurde diese Notwendigkeit freundlich betont – vielfach herrisch und wie selbst ärgerlich darüber! Mir war es insofern unbegreiflich, als ich passiv dabei zu sein hatte – trat ich aktiv auf, war es unfehlbar «miss». Da zu sein, hatte ich – eigentlich kaum mehr. Atmen musste ich in Childs Nähe. – Wie konnte es mich da so furchtbar anstrengen und mitnehmen? Dauernd fühlte ich mich haarscharf beobachtet – von einem Hellsehenden, einem intuitiv wissenden Menschen – der jede Regung, selbst die der Gedanken deutete. – Auch wenn ich in einem andern Zimmer mich aufhielt und so eher schmuggeln zu können hoffte, stand er plötzlich neben mir und herrschte: ja, was ist denn? Warum denn? und er gab Antwort auf Gedanken, die noch knapp völlig zu Ende gedacht waren. Wenn ich jetzt auf diese Zeit zurücksehe, so habe ich die Empfindung wie nach einer vollbrachten Aufgabe, ein mittelmässiges Zeugnis hat sie mir eingebracht – vielleicht sogar war Enttäuschung auf seiner Seite, denn er wollte, dass ich meine Aufgabe ihm gegenüber ganz en passant erledigen sollte. Ich hätte «schaffen» und arbeiten sollen nebenher; es war mir aber unmöglich. Wie in einem Bann und Zwang lebte ich. – Meine ehrgeizige Anlage war es im tiefsten vielleicht, die nach Erfüllung strebte. – Ganz hatte ich mich in diese Pflicht hineingelebt, die all mein Wollen beanspruchte. Nun stehe ich wieder vor dem luftleeren Raum – fühle, dass ich ihn neu werde erfüllen müssen, da all mein Eigenes verströmt wurde an ihn, ohne dass dies wahrhaft merkbar gewesen wäre – Er richtete sich mehrmals am Tage an mir auf – meist in der Weise, dass er alles an mir bemängelte und niederzog. Ein anerkennendes Wort habe ich eigentlich nur die allerletzten Tage zu hören bekommen. Es war mir so ungewohnt, dass ich es kaum für Ernst nehmen konnte. [...] Der Arme, der Arme! Wenn ich mir dieses Kapitel zurückrufe, will ich unter keinen Umständen mehr an eine Fortsetzung denken, worüber er oft sprach. Am vorletzten Tage sagte er: «Ja, ich weiss, vous aimez l'autre, vous aimez A – Und was fühlen Sie für mich?» Ich mochte nicht eingehn auf solche Reden. Man konnte auf plötzliche Zorn- oder Empörungsausbrüche gefasst sein. Aplanieren, das war überhaupt mein Streben – von früh bis spät. Ablenken – irreführen – ich muss es zugeben. Zu bange, nur irgendetwas beim Namen zu nennen, musste ich alles und jedes und das Verletzendste in den Kauf nehmen und stillesein. Ich habe mich nie so zu beherrschen gelernt. Vielleicht bin ich nie weniger aufrichtig gewesen vor Angst, vor Todesangst vor diesem völlig Unübersehbaren – An einem der letzten Tage sagte er mir: Meine Eltern sind voll Bewunderung, dass Sie es mit mir aushalten! Meine Mutter sagte: Frau von Derschau ist der erste Mensch, der das fertigbringt – selbst wir, die wir dich lieben, können es nicht. Max sagte dies mit einer ganz matten Stimme. Er zwang sich dies Bekenntnis – unaufgefordert – mühselig ab in einer Art von Gerechtigkeitsgefühl – so als wolle er mir Anerkennung zollen wider Willen. – Es war alles nur eilig hingehaucht; ich stand ganz unter dem Eindruck dieser Worte, nicht gewöhnt, auch nur die leiseste Freundlichkeit zu hören – [München, 3.3.34] Noch vor meinem Geburtstage hatte ich München verlassen, mich fröstelte diesmal in der Pension. Es zog mich hinaus, und als ich noch nicht 14 Tage hier war und schon fühlte, wie die Erlösung zu wirken begann, wurde ich eines Abends ans Telephon gerufen. Zitternd bei dem Worte «Basel» hörte ich bald nah und vertraut des lieben Childs Stimme: «Wo sind Sie denn? Ich habe schon in München angerufen. Warum sind Sie nicht in München? Ich wollte Sie nämlich bald einmal besuchen!» «Mich?» «Ja!!» «Wann?» «So in 3 Tagen. Vielleicht bin ich schon am Dienstag bei Ihnen!» Und das in meiner Einsamkeit zu hören!! Die ganze Liebe überflutete mich – eine Seligkeit, wie ich sie länger wie 1 Jahr nicht gefühlt hatte. Dann blieb jede Nachricht aus, und nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich, schreibend am Tische sitzend, Schritte draussen hörte – und, gleich hinter dem eintretenden Mädchen stehend, Child erblickte, der mit unsicherem Blick auf mich schauend, sich zu mir niederbeugte, mir seinen lieben, scheuen, kaum fühlbaren lieben lieben Kuss zu geben – wie in Stuttgart, wie vor mehr denn 1 1/2 Jahr zuletzt. – Sein Gesicht war sehr blass und ernst, und als ich ihn genauer ansah, bemerkte ich, wie seine Lippen zitterten und seine Züge von verhaltenem Weinen bebten. Ach, nun will ich nicht versuchen festzuhalten, wie wir uns gegeneinander lösten in rückhaltloser Aussprache – wie einem eigenen Kinde gegenüber, wie einem im tiefsten verstehenden Sohne gegenüber, der vielleicht immer noch um einen Grad subtiler und zarter und sensibler ist wie man selbst – [...] Childs, geliebten Childs Hiersein ist wie ein einziger Festtag – wir haben uns nicht nur in allen Höhen und Tiefen wiedergefunden, nein, wenn das möglich war, mit noch grösserer Innigkeit ineinander geschlossen – so nah, dass jede Stunde des Zusammenseins wie ein gemeinsames Atmen ist. Da liegt er dann zusammengekauert wie in Stuttgart auf der Chaiselongue, und mir ist dann immer, als sei ich Tochter und er ich in den ersten Jahren meiner Ehe, wo ich auch in jedem freien Augenblicke mich zusammenkauerte und legte. [...] So streichelte ich den in Irren und Wirren Verstrickten, dessen grosse fragende Augen wie Kohlenfeuer brennen und mich forschend verfolgen – jede Miene und Bewegung. Und in seine Selbstgespräche, die ich belauschen durfte, in sein Zittern und Zagen fiel ab und an jäh und unvermittelt eine Kritik, ein Urteil, eine Anerkennung oder Missbilligung meiner Person, so rückhaltlos, als spräche er zu mir von jemand anderem. «Sie sind innerlich gewachsen, Frau von Derschau seit Stuttgart – Ihr Geist ist stärker geworden – Sie sind klarer und objektiver, auch sicherer geworden, ja, gewiss, aber es gefällt mir nicht, dass Sie sich zersplittern – den Menschen das so en passant geben, was Sie schreiben sollten, damit viele etwas davon haben! Versprechen Sie mir, dass darin eine Umkehr kommen soll! Beginnen Sie zu arbeiten! Ganz systematisch, wie ich es tue – Mit dem Gedichtemachen hören Sie auf! Schreiben Sie Prosa, schreiben Sie von Jochen und von Ihrer eigenen Kindheit!» Wer dringt denn in dieser Weise in das Leben des anderen Menschen ein? denke ich und fühle wie nah, wie beängstigend nah Child mir steht – Er spricht von seinem eigenem Schaffen – vom Tode seines Vaters, von den furchtbaren Tagen und Wochen, die dem Tode voraufgingen. – Ich glaube, sein Vater hat ihn übermenschlich geliebt – er wollte aus ihm den Sohn machen, den er sich in seiner starken Tatkraft und Mannhaftigkeit ersehnte. Poor child, das nur ein Dichter ist, ein Abseitiger, ein Einsamer – Überdimensionaler! An Dölfchen denkt er nicht mehr so viel – jetzt ist es der Vater, der ihn ganz beherrscht, ja drohend und fordernd wie im Leben vor ihm steht. Tag und Nacht – [...] Ich möchte ihn schützen vor Kummer und sehe, dass er noch Kummer und Herzeleid zu verarbeiten hat wie alle andern, da seine Seele vibriert, sein Herz flattert – und neben des Vaters Child steht Missis, die an allem Hergebrachten hängt, die ganz Mutter ist. «Blut auf Blut», wie er später schreibt – keine Distanz, kein Ausgleich. Ein so tiefes Erbarmen fühle ich mit Child, eine heisse Liebe für ihn und jeden seiner Gedanken und Regungen, die voller Tragik sind, in sich selbst zurückmünden und kaum jemals eine Erlösung finden werden – Bei mir ruht er aus; fühlt sich geborgen; «ich fand Ausruhen und die Weite bei Ihnen», schreibt er später. – Nützlich fühle ich mich dann, glücklich für ihn da zu sein bis in die Tiefen der Seele. [...] Es nahen schon die letzten Tage heran – Max verschiebt die Abreise von einem Tag auf den andern – Seine Mutter hat Sehnsucht nach ihm. Er sagt: «Ich bin mal eines Tages eben fort, halt eben fort – Sie müssen dann nicht viel Aufhebens davon machen.» [...] Langsam beginnt das Herzenskind sein Köfferchen zu packen: «Von meiner Grossmutter stammt dieser kleine Koffer», sagt er und hebt seine Schönheit hervor. Das kleine Zimmer hat so viel Glück erlebt, jetzt wird es eng – und die Dämmerung kriecht wie Nebel herein. – Child sieht mich kaum an, und schon geht über sein schönes, geliebtes Gesicht ein schmerzlicher Zug. – Er nimmt seine Manuskripte nochmal in die Hand, blättert darin und liest ein par Zeilen vor – [...] «Haben Sie mich noch lieb?», fragt Child, sobald ich ihn nur loslasse mit meinem Fühlen – dann schreckt er auf und fragt diese Frage, bis ich mich ganz zu ihm zurückfinde – dann ist er zufrieden. Worte braucht's nicht. [Partenkirchen, November / Dezember 1935] [Annie von Derschau (gestorben 1953). Hofdame und Lyrikerin, mütterliche Mentorin von Franz Max Herzog.]

 
FMHMoritz Reich