Im Künstlerzimmer

Die berühmte Pianistin Faustine Gradenrück sass im Künstlerzimmer. Sie hatte eben die rauschenden Herbststürme der Chaminade gespielt. Warum nur musste ihr im Mittelsatz der vierte Finger vom As aufs A rutschen, ausgerechnet heute, da der bewährte väterliche Freund Geheimer Rat Eisleben ihrem Konzert beiwohnte? Eine Locke ihrer kunstvollen Frisur löste sich und glitt über das linke Ohr. Faustine ergriff einen der vielen Kämme, die ihre Zofe in allen Künstlerzimmern auf einem Tischchen ausbreiten musste, und steckte damit die Locke fest. Sonst war sie zufrieden mit ihrer Leistung: das Publikum war ehrlich entzückt, und sie hatte einige Damen mit ihren Spitzentüchern und Fächern winken sehen, ein Herr in der zweitvordersten Reihe riss die Gardenie aus seinem Knopfloch und war sie begeistert aufs Podium. Ihr Spiel, ihr Lächeln, ihre langsame Verbeugung hatten die Zuhörer wieder besiegt.War nicht schon vor fünf Jahren, im Jahre 88, als sie zum letzten Male in dieser Stadt gespielt, diese verstaubte Palme im Künstlerzimmer gestanden? Ja, auch damals entströmte dem blauen Plüschsofa der unerträgliche Moschusduft, genau wie heute, da ihre Nase das widerliche Parfüm einatmen musste. Ein halbes Fläschchen Eau de Cologne hatte sie schon versprengt, um den Moschus zu übertönen; allein, das Unterfangen blieb eitel, und so war sie nunmehr nur noch bemüht, ihr Taschentüchlein, getränkt mit Kölnischwasser, vor der Nase hin- und herzuschwenken. Einigermassen enerviert erhob sich Faustine, dirigierte ihre rosa Schleppe mit der linken Fussspitze energisch nach hinten und schickte sich an, wieder in den Saal zu treten, um das letzte Stück vor der grossen Pause zu spielen.Da pochte es leise an die Tür, der Konzertdiener erschien schüchtern und übergab ihr mit einer Verbeugung ein lilagraues Briefchen. Hastig eröffnet bot es nur die beiden Zeilen: Ewig dein. Egon Graf Jammerthal. Faustine presst die Rechte an ihren Busen und sank, einer Ohnmacht nah, auf das moschusduftende Sofa. Oh, wie konnte der Kobold ihr dies antun! Sie schloss einen Augenblick die Lider und versuchte sich zu erinnern, in welche Stadt er ihr das letzte Mal gefolgt war.Ja, es war in Budapest gewesen: nach dem Konzert trank sie mit ihrem Agenten in einem eleganten Restaurant Tokayer, da trat ihr Egon in der Gestalt eines süss lächelnden Primas vor die Augen und spielte schluchzende Zigeunerweisen in ihr Ohr. Oh, wie hasste sie ihn da, der seine schwarzen Locken ölig geglättet und die Enden seines Schnurrbartes so dreist herausgewichst hatte. Nein, sie ertrug ihn einfach nicht, diesen Anbeter. Und doch, wenn sie ihn zurückstiess, musste sie seiner infernalischen Kräfte gewärtig sein, die sie so gänzlich aus der Fassung bringen konnten. Im Jahre 86 hatte sie ihn in einem Gondoliere Venedigs erkennen müssen, dessen Blick milde auf ihr geruht. In Paris öffnete er ihr einst als Gérant von vollendeten Manieren die Tür eines Modesalons, und in London drang er in hochgeschlossene Frauengewändern gehüllt und als Lady Sussex vorgestellt in einen wohltätigen Damentee ein und bot ihr an, sie nach Hause zu geleiten. Immer hatte sie ihn abgewiesen. Indessen wurde er nie müde, um ihre Künstlerhand anzuhalten. Denn nach einer Künstlerin verlangte sein Herz. Und sei sie auch eine Megäre, wie er behauptete.In Träumereien versunken sass Faustine Gradenrück da, vergessen war das Konzert, das Publikum. Da pochte es abermals an die Türe und herein trat strahlend und verführerisch Graf Jammerthal, den Claque unterm Arm und im Knopfloch einen Veilchenstrauss.Faustine, mein ewiges Idol, erhören Sie mich!Nimmermehr! Heben Sie sich von hinnen!Oh welch tiefe Schmach und Erniedrigung!Es ist mein letzte Wort!O verlorenes Glück!Egon war ihr zu Füssen gestürzt und küsste wild den Saum der rosa Konzertrobe. Faustine indessen erhob sich stürmisch und versuchte zu enteilen. Doch weh! In den Händen des Grafen war ein Stück ihrer Spitzen verblieben; mit zerrissenem Kleid rannte sie aufs Podium und begann klopfenden Herzens zu spielen. Es war die brillante Tarantella von Heller; sie hatte sie in schwungvollem Tempo angefasst und trieb in den wogenden Rhythmen eilend vorwärts, doch ach, statt eines As ertönte da jedesmal ein A: wie grauenhaft falsch, wie aufregend dies A!Und so oft war es anzuschlagen! Sie war im Banne des Grafen, spürte Faustine nun. Mochte sie mit dem vierten, fünften oder dritten Finger noch so sicher nach dem As greifen, er rutschte aus und spielte ein A. Das Publikum begann unruhig zu werden, ein paar Damen kicherten, ein Kritiker rief Oho! und bald war der Aufruhr vollkommen: die Pianistin musste Hellers Tarantelle abbrechen. Tränenüberströmt flüchtete sie ins Künstlerzimmer. Es waren Tränen ohnmächtiger Wut.Doch was musste sie hier gewahren? Unverbesserlich strahlend sass Egon Graf Jammerthal unter der Palme, und in der Luft wirbelten unzählige nackte Amoretten. Ð Sie entrinnen mir nicht, geliebte Faustine. Sie sehen, ich bin stärker als Sie. Und mit den Spitzen Ihrer Robe habe ich Ihnen Ihre Seele entrissen. Küssen Sie mich nunmehr! Ð Unwürdiger! hauchte die Pianistin Faustine Gradenrück, unter dem Tränenschleier falsch lächelnd und sich fragend, ob sie nun um ihres Klavierspiels willen die seine werden wollte oder nicht. Denn stiess sie ihn endgültig zurück, würde er allerorten, wohin er ihr folgte (und wie hätte er mit seinen zauberischen Kräften nicht wissen sollen, wo immer sie weilte), ihre Kunst zunichte machen. Sei’s drum! So dachte sie, denn die Kunst ging ihr über die Liebe, und in ihren Entschlüssen pflegte sie nicht lange zu schwanken. Innerlich gefestigt, doch immerhin leise erregt, trat sie an den Grafen heran. Sie hob die beiden Enden des glänzenden Schnurrbarts in die Höhe, um sich zum ersten Kusse anzuschicken, durch den sie die seine würde.Wehe! Da blieben ihr die Schnauzhaare in den Händen. Graf Egon aber wankte erbleicht zum blauen Sofa und sank in die moschusduftenden Polster. Faustine lächelte abermals, diesmal nicht aus Verlegenheit und in einem Gemisch aus Wut und Scham. «Die Haare Simsons», rief sie entzückt und steckte die beiden Schnurrbartteile einer schwarz glänzenden Masche gleich in ihre Frisur. Also geschmückt stürzte sie hinaus aufs Podium: einige unentwegte Freunde der Klavierkunst waren verdutzt sitzen geblieben, unter ihnen, wir kennen ihn, der ehrbare, verdiente, würdige, betagte Geheime Rat Eisleben. Ihnen spielte Faustine nun Hellers Tarantella vor, diesmal fehlerfrei. Und siehe da, kein einziges As erklang als A. Begeistert klatschten diese letzten Zuhörer; der Geheime Rat Eisleben indes erkletterte mühsam und zitternd das Podium und küsste Faustinen auf die Stirn. An seinem Arm kehrte sie in das Künstlerzimmer zurück. Fast beschlich sie ein Gefühl der Wehmut, als sie den Grafen Jammerthal, seines schönen Schnurrbarts beraubt, entkräftet und in tiefer Ohnmacht auf dem Sofa sitzen sah.Welch entzückendes Vögelchen sitzt dir denn im Haar? fragte Herr von Eisleben kosend.Ach je, fast hätt’ ich Simsons Haar’ vergessen! rief die Pianistin und verbrannte Egons Schnauz über der zischenden Gasflamme.